Spinnenwege: Kalkweißkalt

Das Käuzchen lockt. Und meine Hand wandert über Mauernfeld. Muschelkalk. Ein Ammonit spiralt. Ich pruckele ihm mit dem Zeigefinger die Jahrmillionen aus seinem Schneckenhaus. Was der alles schon gesehen haben muss? Er lädt mich ein. Erzählt ein wenig. Von früher. Mein Wangenglühen kühlt der Trilobit in der Nachbarschaft.

Denn mein Früher ist auf der anderen Seite. Im Eisengittergrenzgeviert. Da ist Mutti schon immer sehr stolz darauf gewesen. In Familienbesitz seit 1866! Vater murmelt dann immer etwas von ‚Königgrätz’ und ‚Radieschenfamilie. Die besten Teile unter der Erde.’

Nur am Freitag hat er nichts gesagt. Sein Taschentuch war viel nasser als meins. Denn ich habe nach innen geweint. In meinem Kopf ein kleines Meer wachsen lassen. Das Steinhuder Meer. Das mochte sie doch so! Mit dieser kleinen Insel mittendrin. Meiner Nase. Dort bin ich mit Kleineomi daraufgeklettert. Hab’ Fischbrötchen gegessen. Mit ihr. Während der Pastor sprach. Alle sangen und beteten und weinten. Meistens alles durcheinander.

Nachher habe ich ihre und meine Hände abgewischt. Mein fettiges Taschentuch zusammen mit den Moosröschen in die Grube geworfen. Mutti hat mich ganz doll festgehalten. Später hat sich mein Pepita-Anzug bei mir darüber beshwert. Ganz zerknittert sei er gewesen. Aber sie hatte wohl Angst, dass ich da rein springe. So ein Blödsinn. Wir hatten uns doch zuvor auf der Insel schon verabredet, dass ich sie bald besuchen komme.

Jetzt hänge ich am Muschelkalk fest. Nicht mehr in Pepita, sondern Pyjama. Und Pantoletten aus Filz, wie Kleineomi immer sagte. Sie und ihre Worte… Von ihr weiß ich auch, dass der Buschriese über unserem Eisengittergrenzgeviert ein Rhododendron ist.

Im Früher habe ich in ihm Verstecken gespielt. Mit mir. Wenn sie die Verwandten begossen hat. Nun hab ich Angst, dass er mich auffrisst. Der grummelte schon immer so hungrig.

So schmieg ich mich an die alten Tintenfische. Doch plötzlich sehe ich, wie Onkel Kurt aus der Mauer wächst. Aber ohne seine Zigarre. Er hat ja keine Hände. Und Tante Gisa. Sie macht den Mund auf. Als ob sie singen will. Wie gut, dass sie keine Stimme mehr hat. Sie starb, als ich zur Schule kam.

Daneben dann Herr Rodermund. Unser Nachbar. In der Siedlung wie auch hier. Kleineomi hat sich darauf gefreut, mit ihm Seite an Seite zu liegen. Oder über den Gartenzaun hinweg ein dünnes Zigarillo zu rauchen. Ob die da unten auch so etwas haben. Oder eher Hecken. Aus Wurzelhaar.

Plötzlich rückt der Trilobit ein Stück zur Seite. Und auch der Ammonit. Die Muschelkalken ebenfalls. Und werden weich. Warm. Wie – – – wie Zuckerwatte. Mein Gesicht wächst in die Wand hinein. Schmeckt Süß. Selbst die Bonifatiuspfennige kratzen nicht auf meiner Haut. Im Gegenteil. Sie zwinkern mir zu. Während ich in Wandelstein wachse. Und der Allerkleinste von ihnen flüstert mir zu: ‚Wer so wandert. Durch die Welten. Die Zeiten. Ist vor allem gewappnet.’