Spinnenwege: Kleineweltenschatz (3)

Am nächsten Tag das gleiche Spiel: Aufstehen, Haferflocken und Kakao, Straßenbahn, sechs Stunden Immergleichgrau im Pestalozzi-Gymnasium, zweiter Stock, letzter Raum, der Sackgassenklasse.

Beinahe – das gleiche Spiel. Denn Wolfgang ist heute auffallend ruhig. Kein böses Wort. Und auch Herr Stimpe wirkt fast ein wenig nett. Ich schaue auf seine Hose. Aber er hat sich natürlich umgezogen. Und als ich Stephan in die Augen sehe, guckt er als Erster weg, was er noch nie gemacht. Nur kurz vor Schluss erscheint es mir, als ob sie Blicke wechseln, alle meine Tagverderber, und später entdecke ich in der Tasche meines Parkas einen Zettel. ‚Wir geben nicht auf!‘ steht darauf.

Die letzte Doppelstunde Englisch. Dann Straßenbahn, Ravioli, Erdkundemappe, die Niederschlagstabellen Mittelamerikas. Und endlich in den Keller: Mit Mutti malen, das Stromern durch die Schilfweitwelt, den Rehbock retten – schön! Durchatmen, frische Luft Und dann zu den Gefangenen schauen, sich auf ihre Furcht freuen, die blassen Gesichter, die sie an die Glasgrenzen meiner Welten drücken, dass ihre Nasen ganz platt sind und sie wie Frösche aussehen.

Doch was für ein Schreck – Stephan ist weg und als ich näher an das Regal gehe, knirscht Scherbenton unter meinen Schuhen. Dann hör‘ ich ihn, dieses Lied, das er so gerne pfeift, das aus dem Film mit dem Mundharmonikaspieler. Es kriecht die Wände entlang, setzt sich in meine Ohren und erzählt mir, dass er in der Waschküche ist.

Und da steht er, zwischen Muttis Bauknecht und dem Backsteinherd, in dem Großeomi ganz früher die Windeln von Vater gekocht hat.

Gelangweilt zieht er den Reißverschluss von seiner Trainingsjacke hoch und runter, die er immer über seinen schneeweißen Rollkragenpullovern trägt und die Funken sprühen, richtig knistern, wenn er mein Etui oder die Pudelmütze durch die Klasse wirft. Und er grinst und pfeift sich eins, weil er sicher ist, dass er bis an das Ende aller Tage gegenüber mir der Sieger sein wird.

Doch hier sind wir nicht im Klassenzimmer, der Turnhalle oder auf dem Pausenhof. Hier sind wir in meinem Keller, in meiner Welt. Und kämpfen nun nach meinen Regeln. Nicht das gleiche Spiel. Sondern ein Heimspiel!